Sammelsurium

Die vergessene Jacke

Im Jahre 2008 wurde mein Uropa Luigi neunundneunzig Jahre alt. Die ganze Familie war in heller Aufregung. Denn es stand jetzt schon fest, zu seinem hundertjährigen Geburtstag eine Feier zu organisieren. Die gesamte italienische Familie und viele Freunde sollten eingeladen werden.

Im darauffolgenden Jahr fuhren wir mit unserer Familie an das Ende des Stiefels. Nach fast zwanzig Stunden Autofahrt – war es das gefühlte Ende der Welt.

Es war spät abends, als wir in der Region Apulien bei unserer Familie eintrafen. Die Einwohner Apuliens sind eines der abergläubischsten Völker Italiens. So abergläubisch, dass sich die Entscheidung eines Haus- oder Wohnungskaufs nach der Anzahl der sich in dem Objekt befinden- den Hausgeistern richtet. Und dann kommt es natürlich noch darauf an, ob die anwesenden Hausgeister dem zukünftigen Hausbesitzer gut oder schlecht gesonnen sind.

Mein Uropa Luigi hatte das Glück, dass sein Fata di casa (Hausgeist) ihm sehr wohl gesonnen war. So begrüßte er den Hausgeist jeden Tag höflich und verabschiedete sich, wenn er das Haus verließ. Und wir Kinder, Nichten und Urenkel taten es ihm nach. So waren wir alle auf der sicheren Seite.

Eines Abends nach vielen hitzigen Diskussionen, welches Essen es nun an seinem Geburtstag geben würde, sagte Uropa Luigi, dass er sich wünsche, an seinem Geburtstag eine kleine Pokerrunde zu veranstalten. Natürlich spät am Abend, wenn die Kleinsten schon im Bett liegen würden. Mein Uropa war nämlich schon als junger Mann leidenschaftlicher Pokerspieler gewesen. Als er den Wunsch äußerte, schaute er etwas verwirrt. »Luigi, was ist denn los?«, fragte meine Nonna (Uroma).

Er schüttelte den Kopf und steckte sich seine Pfeife in den Mund. Der Qualm seiner Pfeife zog durch die schmale lange Gasse in der Via Sofocle (benannt nach einem griechischen Dichter). Der Geruch vermengte sich mit der sich vor Ort befindlichen Pizzeria. Ich bekam großen Hunger. Wir saßen alle an einem kleinen, wackeligen Holztisch, und die Nachbarn waren aufgrund unseres Besuches aus Deutschland natürlich alle anwesend.

Nach geraumer Zeit fingen sie sich an, gruselige Geschichten zu erzählen. Meine Nonna schrie auf. »Los, Kinder ab ins Bett! Ihr seid noch viel zu klein. Dann könnt ihr nicht einschlafen und zieht euch wieder die Bettdecke über den Kopf!«

Und sie hatte recht. Genau so war es immer. Daher brachten die Nachbarn ihre Kinder zu Bett und kamen anschließend wieder zu uns.

Uropa Luigi hatte bereits die gesamte Gasse mit Rauch vernebelt. Dabei sprach er von den Ahnen unserer Familie und natürlich auch darüber, dass er oft mit ihnen redete, wenn er alleine war. Denn sie hingen alle als Portraits an den Wänden. Und das ist ein Teil der Kultur. »le buone anime dei morti«, sagte er verschmitzt. »Die guten Seelen der Toten.« Mit diesen Geschichten bin ich als seine Urenkelin aufgewachsen. Für mich war das völlig normal.

Als ich mein letztes Stück Focaccia (ligurisches Fladenbrot) verdrückte, nahm mich meine Nonna in den Arm, und Uropa Luigi streichelte mir über den Kopf. »Ja, damals habe ich viel gepokert.«

Nonna, schaute ihn tadelnd an. »Luigi! Lass es sein!«

»Perché?« (warum), fragte er mit leicht angehobener Stimme. »Lass mich doch erzählen! Damals haben wir, vier weitere Bekannte aus unserer Jugendzeit und ich, jeden Mittwoch gepokert. Wir waren gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt.

Nonna, grinste. »Aber du bist immer noch mein Schatz!«

Uropa Luigi lächelte, und alle Anwesenden grinsten. »Nichts konnte uns davon abhalten, uns jeden Mittwoch in unserem Esszimmer zu treffen.«

»Nichts?«, fragte ich ungläubig.

Uropa Luigi nickte und fügte hinzu. »Außer natürlich einer wurde krank oder war tot.«

»Luigi!«, mahnte meine Nonna und schüttelte den Kopf. Im Nachhinein bestätigte mir meine Nonna, dass diese Treffen rigoros abliefen. Wenn zum Beispiel jemand aus unserer Familie an diesem Tag Geburtstag hatte, wurde dieser kurzerhand auf den nächsten Tag verschoben. Keiner der Spieler kannte sich persönlich. Und eine weitere Regel besagte, dass es eine reine Pokerangelegenheit sei, und sobald einer unangemeldet fehlte, war er raus.

Eines Abends, als sie alle zum Pokern versammelt waren, erklärte ihnen ein Spieler, dass er bald heirate und nun zum letzten Mal dabei sein würde. Einerseits war die Freude für den bald verheiratenden groß, doch andererseits waren sie alle traurig, dass sie zukünftig nur noch zu viert pokern würden.

So kam es, dass sie sich gut zwei Monate zu viert weiter trafen. Die Nachbarn und Freunde der Bekannten versuchten über Mundpropaganda, einen fünften Mann für das wöchentliche Treffen zu finden. Doch leider blieb der Erfolg aus.

An einem Abend, als schon länger niemand mehr ein Wort über die Situation verlor, klingelte es an der Tür. Ein junger Mann stand dort in einem feinem Anzug und dem dazu passenden Hut.

»Hut?«, fragte ich verwundert.

Nonna nickte. »Du musst bedenken, es war das Jahr 1931, und da gehörte ein Hut zur Standardausstattung eines Mannes dazu.

»Ich habe gehört, ihr braucht einen fünften Mann!« Uropa Luigi nickte. »Ja, wenn du Lust hast, komm rein!« Er war voller Vorfreude und vergaß darüber hinaus zu fragen, woher er kam. Sie verstanden sich alle sehr gut. Der junge Mann hieß Antonio und war sehr freundlich. Mehr wussten sie nicht.

Uropa Luigi hustete, und dicker Qualm stieg auf. »Piano« (langsam), sagte meine Nonna und klopfte ihm auf den Rücken. »Zwei Jahre pokerten wir zusammen«, fuhr er fort. »Wir wussten nicht viel, eigentlich fast gar nichts über ihn. Doch es war egal. Wir hatten ja unsere Regeln. Das Einzige, das uns verwunderte, war, dass er jedes Mal dieselben Kleider trug.«

»Er hat nicht einmal sein Hemd gewechselt?«, fragte ich ihn mit angezogenen Augenbrauen.

»No!« (Nein), antwortete mein Uropa knapp. Wir verzogen alle unsere Mundwinkel. »Auf Jeden Fall, hatten wir großen Spaß zusammen. Wir pokerten und zechten oft bis in die frühen Morgenstunden.«

Ich war erstaunt über die Pokermarathons.

Uropa Luigi lachte. »Ja, wir vertrugen einiges. Und an besagtem Abend gab es außerdem viel Vino, Vino, Vino von Tante Maria aus Alberobello.« (Stadt in der Provinz Bari)

»Das kann ich bestätigen«, warf meine Nonna ein. Alle lachten.
»Nach zwei Jahren gemeinsamen Pokerns und einer gut durchzechten Nacht ging Antonio an besagtem Abend und vergaß seine Jacke zum ersten Mal.«

»Als alle weg waren, erzählte ich eurer Nonna von dem Missgeschick. Und wir waren etwas aufgeregt. Denn zu dieser Zeit brauchte man seine Jacke. Es war ja nicht so, dass der Kleiderschrank voller Jacken war. Also hatte Nonna die Idee, dass wir in seiner Jacke nach einem Hinweis schauen. Vielleicht ließ sich ein Ausweis finden.

Ich war Anfangs dagegen, weil ich mir schlecht vorkam, in seiner Jacke herumzuwühlen. Aber Nonna überzeugte mich, dass der junge Mann sonst friere, und er brauche doch seine Jacke.

Also schauten wir in seine Taschen. Und tatsächlich, in der Jackentasche befand sich ein Ausweis für die Essensausgabe mit einem Foto und einer Wohnadresse. Also bin ich einen Tag später mit der Jacke und dem Geldbeutel auf dem Fahrrad zu dieser Adresse gefahren und klingelte an der Haustür.«

Uropa Luigi bekam erneut einen Hustanfall. »Luigi, Carissima (Liebster), komm ich bring dich ins Bett, du bist doch müde«

Luigi schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss doch die Geschichte zu Ende erzählen.«

Nonna lächelte. »Wenn du möchtest, erzähle ich sie zu Ende.«

Luigi sträubte sich und holte tief Luft. »Eine Frau öffnete mir die Tür und schaute mich überrascht an. ›Buongiorno Signora‹ (Guten Tag), sagte ich. ›Entschuldigen Sie bitte, aber ich gehöre zur wöchentlichen Pokerrunde, und Ihr Mann hat wohl seine Jacke gestern bei uns vergessen. Ich konnte Ihre Adresse in seinem Geldbeutel finden.‹ Die Frau riss erschrocken ihre Augen auf und starrte mich fassungslos an. Plötzlich fing sie an zu fluchen in jeder erdenklichen Art und Weise. Sie verfluchte mich und schrie mich an. ›Disgraziato!!! (du Unglückseliger, Wicht) Hau ab! Sonst rufe ich die Polizei. Mein Mann ist schon seit Jahren tot!‹ Und wie ich dazu komme, ein solches Spiel mit ihr zu treiben. Ich solle mich fortschaffen, sonst wird sie mich anzeigen. Ich entschuldigte mich vielmals bei ihr, doch sie hörte mir nicht zu. Sie entriss mir die Jacke und schlug die Tür vor meiner Nase zu. Die Aufregung war sehr groß, und keiner verstand die Situation.

Zwei Tage später klingelte es an unserer Tür, und die Tochter besagter Familie ... wie hieß sie doch gleich ...?« Uropa Luigi tat sich schwer, den Namen zu nennen.

»Anna«, sagte meine Nonna und lächelte.

»Si! (Ja) Anna wollte mit uns reden. Wir erklärten ihr wieder und wieder die Gegebenheiten und dass wir nicht mehr wussten, als das er seine Jacke vergessen hatte. Anna hatte Bilder von ihrem verstorbenen Vater dabei, und wir bestätigten alle fassungslos, dass es genau dieser Mann, Antonio, war, der bei uns seit zwei Jahren pokerte. Anna meinte immer wieder, dass es nicht sein kann, dass ihr Vater bereits seit Jahren tot sei. Doch das unerklärliche dabei war, dass ihr Vater genau in dieser Jacke beerdigt wurde. In seiner Lieblingsjacke, die er auch zu seiner Hochzeit mit ihrer Mutter trug. Anna offenbarte uns anschließend, dass ihre Mutter nun Anzeige wegen Grabschänderei erstattet habe. Sie ging zwar nicht davon aus, dass wir es waren, doch der Sache musste auf den Grund gegangen werden.«

Mein Uropa Luigi sollte sich als Zeuge zur Verfügung stellen. Und auch alle anderen Bekannten der Pokerrunde waren bereit, eine Aussage zu machen.

Nach einigen Wochen der Prüfung (die Jacke wurde samt Inhalt von der zuständigen Polizeidirektion in Gewahrsam genommen), bekam die Ehefrau des Verstorbenen Post.

Sie konnte es nicht glauben, doch die Polizeidirektion bestätigte nach eingehender Prüfung, dass an dem Grab ihres verstorbenen Ehemannes keine Grabschänderei stattgefunden hatte. Die Witwe beantragte anschließend aufgrund der schrecklichen Ereignisse eine Graböffnung. Dies war ein sehr schwieriges Unterfangen und erforderte viel Überzeugungskraft. Wegen besonderer Umstände (und weil sich auch die italienische Polizei dem Übersinnlichen nicht ganz verschließt), wurde dieses Vorhaben genehmigt.

Zeitgleich war die auf der Polizeidirektion hinterlegte Jacke samt Inhalt nicht mehr auffindbar. Die Polizei wurde sichtlich nervös und beschleunigte das Verfahren infolge »höherer Gewalt« und teilte die neuen Umstände der Witwe schriftlich mit.

Diese war hinsichtlich der neuen Situation höchst angespannt und betete ununterbrochen zu den Heiligen.

Tage später erhielten alle Beteiligten Post von der zuständigen Behörde. Diese beinhaltete einen abschließenden Bericht und eine Bestätigung, dass keine Grabschänderei stattgefunden hatte. Jedoch war es selbst für die Beamten verwunderlich, dass der Verstorbene die Jacke nicht mehr trug. Sondern, dass diese seitlich neben dem Toten im Sarg lag.

Die Akte wurde nachfolgend geschlossen, und die Behörden sind mit einem Vermerk zu dem Entschluss gekommen, dass hier wohl der Geist Antonios am Werk war. Seine Frau bestätigte kurz darauf, dass Antonio, als er noch lebte, ein leidenschaftlicher Pokerspieler war, und fand sich mit der Situation ab, dass ihr geliebter Antonio wohl als ungelernter Toter eine Abwechslung brauchte.

Uropa Luigi hatte es leider nicht mehr geschafft, seinen hundertjährigen Geburtstag zu feiern. Er starb eines Morgens zu Hause, ohne Schmerzen, an Altersschwäche.

Wir denken oft an ihn und an seine Geschichten, von denen sich viele, so wie diese, als wahre Begebenheit herausgestellt hatten.

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